Leseprobe 'Nichts ist mehr'

12. April 2024

Wie soll man mit einer Erkrankung umgehen, die ausweglos ist? Eine ALS-Diagnose bedeutet für Betroffene und deren Angehörige gleichermaßen ein Abschiednehmen auf Zeit. Iris Meri muss diese Erfahrungen gemeinsam mit ihrem an ALS erkrankten Bruder machen. „Nichts ist mehr“ ist deren einfühlsam geschriebene Geschichte. Eine Geschichte über Hoffnung und Realität, über Lachen und Weinen, Geben und Nehmen, Bewahren und Loslassen. Eigentlich steht Iris ihrem Bruder nicht sehr nah, sie sehen sich nur zu besonderen Anlässen. Doch nun beschließt sie, ihn nach seiner Diagnose zu unterstützen. Es wird für beide kein leichter Weg, der sie immer wieder an den Rand ihrer Kräfte bringt, aber dennoch gelingt es ihnen, wertvolle und schöne Momente zu erleben.

Unter dem Pseudonym Iris Meri habe ich die Geschichte meines Bruders, seiner Erkrankung und unserer gemeinsamen Zeit aufgeschrieben.

Das Buch ist überall erhältlich, wo es Bücher gibt, oder direkt beim Verlag:

https://www.novumverlag.com/onlineshop/ratgeber-sachbuch/alltag-lebensfuehrung/nichts-ist-mehr.html?tx_mdprodukte_pi1%5Bpointer%5D=0&cHash=5691c35fcfc806da654fc8a107f9b7d3

Auszug aus dem Kapitel "Angebote"

Auf einer Bank mit Blick auf die glasklare und eiskalte Ostsee verliere ich mich in der Weite des Anblicks. Allein und fern meiner Heimat bekomme ich Abstand zu allem. Die Grenzenlosigkeit des Meeres klärt meinen Blick, macht meinen Kopf und mein Herz weit und scheint die Beschränkungen, von denen ich sonst umgeben bin, aufzulösen. Ich atme mit der salzigen Luft diese Weite tief ein, versuche sie aufzusaugen und einen Teil von mir werden zu lassen.

 Auf der Bank neben mir nimmt ein Mann Platz und lächelt mich freundlich an. Er erzählt mir, dass er immer, wenn er den Kopf frei bekommen müsste, hierherkäme und aufs Meer hinausschauen würde. Ich nicke verstehend. Er hat eine Tüte einer Bäckerei dabei und bietet mir etwas von seinem Schokocroissant an. Ich ziere mich nur ein klein bisschen, dann greife ich zu. Wandern macht hungrig. Wir reden über die Gegend und er gibt mir ein paar, wie sich später herausstellen sollte, mehr oder weniger wertvolle Tipps für meine weitere Reise.

 Ich gehe weiter, mein Weg ist mein Ziel auf meiner Wanderreise, die mir Zeit geben soll, mich aufzutanken und ich nehme mir vor, die Weite im Kopf und im Herzen mit nach Hause zu nehmen, mir so lange wie möglich die großartige Energie des Meeres als Kraftquelle zu bewahren.

 Zurück zu Hause sitze ich wieder auf einer Bank mit Blick auf das Wasser und genieße die Frühlingssonne. Ein sehr kleiner älterer Mann kommt mit einem im Verhältnis zu ihm sehr großen Eisbecher langsam auf die Bank zu und setzt sich dazu. Mit großer Inbrunst löffelt er und scheint völlig vertieft. Auf einmal streckt er mir den Eisbecher hin und sagt „Hallo!“ Das ist offensichtlich ein Angebot, etwas von seinem Eis abhaben zu können. Ich bin etwas verwirrt. Ich scheine auf Männer auf Bänken einen hungrigen Eindruck zu machen. Ich lächle ihn freundlich an und sage: „Nein, danke.“

 Es gibt Angebote im Leben, die kann man spontan annehmen oder ablehnen und man kann auch selbst welche machen. Es gibt solche, über die man sich mehr Gedanken machen muss. Es hat immer mit Vertrauen zu tun.

 Schon im letzten Jahr hatte ich mit meinem Bruder darüber gesprochen, ob er gerne noch eine Reise machen möchte. Er hatte einiges angedacht und dann die Idee verworfen.

 Jetzt, ein gutes Jahr nach seiner Diagnosestellung und merklicher Verschlechterung seines Zustands frage ich ihn noch einmal. Und ich mache ihm das Angebot, mit ihm zusammen zu reisen, mich um alles zu kümmern, alles zu organisieren, für ihn da zu sein. Hat er nicht Lust, im Meer zu baden, mal einen Tapetenwechsel zu haben, solange er noch mobil und selbstständig ist? Er hat recht, wenn er sagt, dass er keinen Urlaub von seiner Krankheit machen kann, sie wird ihn begleiten, aber er kann Urlaub vom Alltag machen, in dem die Krankheit immer im Mittelpunkt steht.

 Er kann Urlaub mit seiner Krankheit machen.

 Er zögert, muss darüber nachdenken und äußert so lange und immer wieder Bedenken, dass ich beschließe, ihn weder zu drängen noch zu überreden. Schon bin ich davon überzeugt, dass er es nicht möchte oder es sich, vielleicht auch mir, nicht zutraut, dann kommt von ihm die Nachricht: „Ich würde mich sehr freuen, wenn es mit einem Urlaub klappt.“ Ich bin wirklich überrascht. Das Meer müsste aber richtig warm sein.

 Ja, wir müssen unbedingt ans Meer, denn ich bin sicher, dass seine magische Energie auch meinen Bruder verzaubern wird.

 Ich freue mich. Aber ich bin auch aufgeregt. In meinem Kopf wollen einige „Was, wenn …?“ aufpoppen und ich dränge sie energisch zurück. Vielleicht ist es sein letzter Urlaub, in dem er noch selbstständig essen und sich um sich kümmern kann. Vielleicht ist es sein letzter Urlaub überhaupt. Das ist jede Angst, jeden Aufwand, alle Bedenken wert. Und wer weiß das schon. Wer weiß überhaupt etwas in diesem unberechenbaren Leben. Lebe es einfach, denke ich, will es ihm und allen laut zurufen, solange es geht.

 Er hat mein Angebot angenommen. Was ein Vertrauensbeweis.